Notizen

Schauspielhaus

Theater der Leerzeichen

von Sivan Ben Yishai, aus dem Englischen von Tobias Herzberg

Wie viel Zeit, etwa im Laufe von 100 Jahren, verbringt die Theaterinstitution damit, das zu tun, wozu sie eigentlich da ist, nämlich sinnstiftende Kunst zu kuratieren und zu produzieren? 
 
Zum Beispiel gibt es Zeiten, in denen das Theater jahrelang als Unterschlupf zu dienen hat. 
Die Phasen, in denen sich das Theater von einem „Ort des Sehens“ in einen Ort des Versteckens verwandeln muss; von einem „Ort des Sehens“ in einen Ort für mobile medizinische Einheiten oder in ein Lager für Lebensmittel und Munition. 
 
Es gibt Zeiten, die über Jahrzehnte andauern können, in denen sich die Theaterinstitution in einer Art Koma befindet: inhaltsleer, ohne Aktivist:innen und Künstler:innen, frei von Intellektuellen und Communities. Dennoch öffnen sich jeden Abend die Türen, und das Publikum füllt die Säle, um sich Unterhaltung oder Propaganda zeigen zu lassen.
 
Es gibt auch die Zeiten „danach“. Die Zeit des Wiederaufbaus des Theaters. Aus den Ruinen. Denn kritische Stücke zu produzieren, aufrüttelnde Kunst zu beauftragen, mag nur eine kurze Periode in der politischen Biographie einer Kunstinstitution sein, weil – zum Beispiel – Jahrzehnte mit dem Wiederaufbau der Institution verbracht werden dürften; mit der Suche nach brauchbarem Baumaterial unter den Trümmern eines Nachbargebäudes, inmitten des Schrotts eines kollektiven Traumas.
 
Wir alle wissen: Das Theater als Institution ist nicht immun. Es agiert innerhalb der Stadt, interagiert mit ihr ohne Handschuhe, es wird von der Stadt finanziert, es ist von ihr abhängig. Die komplexe Ökosphäre der Theaterinstitution, die Kunst, Gesellschaft, Politik und institutionelle Praktiken miteinander verwebt, ist daher eine der ersten, die verletzt wird: sie ist nicht immun. Bevor man sich versieht, kann die Theaterinstitution zu einem leeren Gefäß werden, das von der Macht und vom Rechtsnationalismus instrumentalisiert wird. Bevor man sich versieht, kann sie zu einem Schauplatz von aufgehetzten Diskursen gegen das Intellektuelle, gegen das Nicht-Binäre und das Dialektische werden.
 
Wann ist die Zeit gekommen, in der die Theaterinstitution tatsächlich vom Staat finanziert und von der Stadt ermutigt wird, das zu tun, wozu sie in einer Gesellschaft da ist, nämlich zu kritisieren, herauszufordern, zu inspirieren? Was braucht es, damit kritische künstlerische Aktivitäten nicht mehr nur in kleinen, unabhängigen Räumen stattfinden, sondern in großen, von der Stadt finanzierten Institutionen? Häufig tritt dieses institutionelle Verhalten in einer bestimmten Phase der Geschichte auf. Wir könnten sie als die Zeit „danach“ bezeichnen. Die Zeit, in der eine Vielzahl von Geschichten und Perspektiven wie Sauerstoff benötigt wird, um das Trauma des Krieges zu verarbeiten. Die Zeit „danach“, in der die Geschichtsforscherin, die Erzählerin, viel mehr gebraucht wird als der Militärexperte. In der der Dichter, der Sozialarbeiter, mindestens ebenso gebraucht wird wie die Politikerin. Dann richten sich alle Augen auf das Theater. Dann wächst der Theatersaal, entwickelt sich und wird zu einem Zentrum, einer Drehscheibe, wo die Vergangenheit untersucht und seziert wird, um zu verstehen, was passiert ist, um zu begreifen, was wir getan haben, während es passierte.
 
Doch das Pendel schwingt. 
Früher oder später ändert sich das Bild im Rückspiegel. Früher oder später werden die Flaggen größer, ihre Farben kräftiger, als würde sich das Fahrzeug rückwärts bewegen, als wäre der Rückspulknopf gedrückt worden, und wieder: der Gestank trockener Münder, die zynische Parolen in alle Richtungen ausspucken, und wieder: die Prozentsätze steigen zum ratternden Geräusch von Panzern und industriellen Nähmaschinen, von geladenen Worten, die auf umzingelte Körper gerichtet sind.
 
Der Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus sagt: „Eine Armeeuniform anzulegen ist in erster Linie ein kognitiver Prozess“. Das kognitive Auspacken der Armeeuniform kommt lange vor dem eigentlichen Anziehen. Das Inventar an Waffen und Soldat:innen geht dem Schlachtfeld voraus. 
Die Umverteilung der Budgets, die Aneignung der Sprache, der Fluss der entmenschlichenden Metaphern? Wir hören sie.
Wir merken sie uns.
Wir: Geflüchtete, Eingewanderte, „Fremde“. Wir: Muslim:innen, queere Menschen, BIPOC, Jüdinnen und Juden. Mit unseren schiefen Zähnen und unserem guten Instinkt liegen wir im Zahnarztstuhl (wir bekommen übrigens immer den besten Termin!) und lauschen dem Treiben auf den Straßen. Wir bemerken die Veränderung des Gesichtsausdrucks beim Anblick unserer Körper. Wir hören den mürrischen Kommentar, den jemand in unsere Richtung murmelt. Manchmal ist es unser Deutsch, manchmal sind es unsere Manieren. Wir schließen die Haustür ab, einige von uns stellen einen hypothetischen (oder nicht so hypothetischen) Koffer unter das Bett, einige von uns haben nicht einmal das Privileg, sich vorzustellen, dies zu tun. Frühmorgens? Gehen wir ins Theater. Das ist unser Arbeitsplatz. Mit unseren Kolleg:innen versuchen wir zu verstehen, wie laut die Institution im Moment sein sollte, wie wir dieses Mikro nutzen können, solange wir es noch haben, die Ressourcen, diese Institutionen, solange wir sie noch haben.
 
*
 
Der Dramaturg Christopher-Fares Köhler sagt: „Was kommt nach dem postmigrantischen Theater? Vielleicht intersektionales Theater“. Aber was könnte intersektionales Theater heißen? 
 
Vielleicht beleuchtet intersektionales Theater jene verschwommenen Perioden, in denen sich der politische Fokus langsam verschiebt; genau jene fragilen Phasen, in denen die Nachkriegszeit zur Vorkriegszeit wird, in denen die Kunstinstitution vielleicht beginnt, sich vor einer klaren Positionierung zu scheuen, in denen sie die Lautstärke ihrer Statements herunterfährt. Vielleicht könnte intersektionales Theater das gemeinsame politische Wissen sein, das in diesen Zeiten wächst und sich entwickelt, in den Ritzen des Zwischenbereichs: Zwischen den Zeiten, zwischen den Institutionen, eine kollektive institutionelle Intelligenz, die sich vereint, um diese stillen Transformationsperioden aufmerksam zu verfolgen, die Veränderungen in der Semantik zu verfolgen, den allmählichen Verlust von Freiheit, von Budgets, von Wagemut, von Unabhängigkeit. Vielleicht ist intersektionales Theater ein stilles, subversives Netzwerk, eine Technologie, die im Dazwischen operiert, im Leerzeichen, dem stummen Signifikanten, das, indem es Wörter trennt – eine Verbindung zwischen ihnen schafft, indem es still ist – eine Unterbrechung und Neuanordnung ermöglicht, indem es abwesend ist – Logik schafft, indem es eine Lücke ist – Inhalt schafft. Das Leerzeichen, ein Trickster, der Ketten, Netzwerke, Sätze ermöglicht. Und der einzige Trick des Magiers der Syntax: Platz machen, Raum geben, Space schaffen.
 
Vielleicht können uns die abstrakten, unerforschten Räume, Spaces, blank spaces, Leerzeichen, einen Hinweis geben, wie man Institutionen in politisch gefährlichen Zeiten aufrechterhalten kann. Der leere Raum des Zwischenreichs – zwischen den Zeiten, zwischen den Institutionen – könnte der Raum sein, in dem große Apparate mit kleinen Projekträumen interagieren könnten. In dem vermögende Institutionen sich mit unabhängigen zusammenschließen könnten. In dem bedrohte Institutionen von Privilegierten die Macht für sich beanspruchen und sie erhalten könnten. Nicht aus Charity, sondern aus dem Verständnis heraus, dass das, was die kleine, unabhängige Institution effektiv tun könnte, der großen völlig misslingen würde. Dass das, was die private Institution leicht überleben wird, das größte Problem der subventionierten wäre. Sich auf diese Differenz zu besinnen und den Austausch fortzusetzen, könnte das post/über-Identitätspolitik-intersektionale Theater werden: ein leerer Raum, in dem Solidaritäten wie ein politisches Myzel wachsen und sich im und auf dem Boden, zwischen und rund um Nationalismus, Rassismus und demagogischen Populismus ausbreiten könnten, indem sie ihr rhizomatisches Gegenteil, ihre verknüpfte, hypervernetzte Antwort sind. Ein Massensubstantiv: Singular und Plural. Der Raum des Leerzeichens, der Leerzeichen. Leer und neutral. Beladen mit der Vergangenheit und gesättigt mit Ideen. Ein bisschen wie …? Genau. Ein bisschen wie der Theaterraum selbst.
 
Vielleicht könnte also in diesen Zeiten, in denen die Luft brennt, in denen mehr und mehr Menschen zu Illegalen gemacht werden und die Zukunft unserer Kunstinstitutionen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt – nicht klar ist, das Rätsel des „intersektionalen Theaters“ für uns zu einem Hinweis, zu einer Inspiration werden, für einen möglichen Umgang mit komplexen politischen Realitäten und zur Verteidigung der Institutionen, für die wir alle gerade verantwortlich sind, denn Sie wissen schon: „Not on my watch“ und so weiter.
 
Also: Wie viel Zeit, etwa im Laufe von 100 Jahren, kann eine Theaterinstitution genau das tun, wozu sie eigentlich da ist, nämlich sinnstiftende, kritische Kunst zu kuratieren und zu produzieren? 
Manchmal denke ich, dass vielleicht dies die seltensten Zeiten sind.
 
Theaterpreis des Bundes, 10/2023

 


Wie viel Zeit, etwa im Laufe von 100 Jahren, verbringt die Theaterinstitution damit, das zu tun, wozu sie eigentlich da ist, nämlich sinnstiftende Kunst zu kuratieren und zu produzieren? 
 
Zum Beispiel gibt es Zeiten, in denen das Theater jahrelang als Unterschlupf zu dienen hat. 
Die Phasen, in denen sich das Theater von einem „Ort des Sehens“ in einen Ort des Versteckens verwandeln muss; von einem „Ort des Sehens“ in einen Ort für mobile medizinische Einheiten oder in ein Lager für Lebensmittel und Munition. 
 
Es gibt Zeiten, die über Jahrzehnte andauern können, in denen sich die Theaterinstitution in einer Art Koma befindet: inhaltsleer, ohne Aktivist:innen und Künstler:innen, frei von Intellektuellen und Communities. Dennoch öffnen sich jeden Abend die Türen, und das Publikum füllt die Säle, um sich Unterhaltung oder Propaganda zeigen zu lassen.
 
Es gibt auch die Zeiten „danach“. Die Zeit des Wiederaufbaus des Theaters. Aus den Ruinen. Denn kritische Stücke zu produzieren, aufrüttelnde Kunst zu beauftragen, mag nur eine kurze Periode in der politischen Biographie einer Kunstinstitution sein, weil – zum Beispiel – Jahrzehnte mit dem Wiederaufbau der Institution verbracht werden dürften; mit der Suche nach brauchbarem Baumaterial unter den Trümmern eines Nachbargebäudes, inmitten des Schrotts eines kollektiven Traumas.
 
Wir alle wissen: Das Theater als Institution ist nicht immun. Es agiert innerhalb der Stadt, interagiert mit ihr ohne Handschuhe, es wird von der Stadt finanziert, es ist von ihr abhängig. Die komplexe Ökosphäre der Theaterinstitution, die Kunst, Gesellschaft, Politik und institutionelle Praktiken miteinander verwebt, ist daher eine der ersten, die verletzt wird: sie ist nicht immun. Bevor man sich versieht, kann die Theaterinstitution zu einem leeren Gefäß werden, das von der Macht und vom Rechtsnationalismus instrumentalisiert wird. Bevor man sich versieht, kann sie zu einem Schauplatz von aufgehetzten Diskursen gegen das Intellektuelle, gegen das Nicht-Binäre und das Dialektische werden.
 
Wann ist die Zeit gekommen, in der die Theaterinstitution tatsächlich vom Staat finanziert und von der Stadt ermutigt wird, das zu tun, wozu sie in einer Gesellschaft da ist, nämlich zu kritisieren, herauszufordern, zu inspirieren? Was braucht es, damit kritische künstlerische Aktivitäten nicht mehr nur in kleinen, unabhängigen Räumen stattfinden, sondern in großen, von der Stadt finanzierten Institutionen? Häufig tritt dieses institutionelle Verhalten in einer bestimmten Phase der Geschichte auf. Wir könnten sie als die Zeit „danach“ bezeichnen. Die Zeit, in der eine Vielzahl von Geschichten und Perspektiven wie Sauerstoff benötigt wird, um das Trauma des Krieges zu verarbeiten. Die Zeit „danach“, in der die Geschichtsforscherin, die Erzählerin, viel mehr gebraucht wird als der Militärexperte. In der der Dichter, der Sozialarbeiter, mindestens ebenso gebraucht wird wie die Politikerin. Dann richten sich alle Augen auf das Theater. Dann wächst der Theatersaal, entwickelt sich und wird zu einem Zentrum, einer Drehscheibe, wo die Vergangenheit untersucht und seziert wird, um zu verstehen, was passiert ist, um zu begreifen, was wir getan haben, während es passierte.
 
Doch das Pendel schwingt. 
Früher oder später ändert sich das Bild im Rückspiegel. Früher oder später werden die Flaggen größer, ihre Farben kräftiger, als würde sich das Fahrzeug rückwärts bewegen, als wäre der Rückspulknopf gedrückt worden, und wieder: der Gestank trockener Münder, die zynische Parolen in alle Richtungen ausspucken, und wieder: die Prozentsätze steigen zum ratternden Geräusch von Panzern und industriellen Nähmaschinen, von geladenen Worten, die auf umzingelte Körper gerichtet sind.
 
Der Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus sagt: „Eine Armeeuniform anzulegen ist in erster Linie ein kognitiver Prozess“. Das kognitive Auspacken der Armeeuniform kommt lange vor dem eigentlichen Anziehen. Das Inventar an Waffen und Soldat:innen geht dem Schlachtfeld voraus. 
Die Umverteilung der Budgets, die Aneignung der Sprache, der Fluss der entmenschlichenden Metaphern? Wir hören sie.
Wir merken sie uns.
Wir: Geflüchtete, Eingewanderte, „Fremde“. Wir: Muslim:innen, queere Menschen, BIPOC, Jüdinnen und Juden. Mit unseren schiefen Zähnen und unserem guten Instinkt liegen wir im Zahnarztstuhl (wir bekommen übrigens immer den besten Termin!) und lauschen dem Treiben auf den Straßen. Wir bemerken die Veränderung des Gesichtsausdrucks beim Anblick unserer Körper. Wir hören den mürrischen Kommentar, den jemand in unsere Richtung murmelt. Manchmal ist es unser Deutsch, manchmal sind es unsere Manieren. Wir schließen die Haustür ab, einige von uns stellen einen hypothetischen (oder nicht so hypothetischen) Koffer unter das Bett, einige von uns haben nicht einmal das Privileg, sich vorzustellen, dies zu tun. Frühmorgens? Gehen wir ins Theater. Das ist unser Arbeitsplatz. Mit unseren Kolleg:innen versuchen wir zu verstehen, wie laut die Institution im Moment sein sollte, wie wir dieses Mikro nutzen können, solange wir es noch haben, die Ressourcen, diese Institutionen, solange wir sie noch haben.
 
*
 
Der Dramaturg Christopher-Fares Köhler sagt: „Was kommt nach dem postmigrantischen Theater? Vielleicht intersektionales Theater“. Aber was könnte intersektionales Theater heißen? 
 
Vielleicht beleuchtet intersektionales Theater jene verschwommenen Perioden, in denen sich der politische Fokus langsam verschiebt; genau jene fragilen Phasen, in denen die Nachkriegszeit zur Vorkriegszeit wird, in denen die Kunstinstitution vielleicht beginnt, sich vor einer klaren Positionierung zu scheuen, in denen sie die Lautstärke ihrer Statements herunterfährt. Vielleicht könnte intersektionales Theater das gemeinsame politische Wissen sein, das in diesen Zeiten wächst und sich entwickelt, in den Ritzen des Zwischenbereichs: Zwischen den Zeiten, zwischen den Institutionen, eine kollektive institutionelle Intelligenz, die sich vereint, um diese stillen Transformationsperioden aufmerksam zu verfolgen, die Veränderungen in der Semantik zu verfolgen, den allmählichen Verlust von Freiheit, von Budgets, von Wagemut, von Unabhängigkeit. Vielleicht ist intersektionales Theater ein stilles, subversives Netzwerk, eine Technologie, die im Dazwischen operiert, im Leerzeichen, dem stummen Signifikanten, das, indem es Wörter trennt – eine Verbindung zwischen ihnen schafft, indem es still ist – eine Unterbrechung und Neuanordnung ermöglicht, indem es abwesend ist – Logik schafft, indem es eine Lücke ist – Inhalt schafft. Das Leerzeichen, ein Trickster, der Ketten, Netzwerke, Sätze ermöglicht. Und der einzige Trick des Magiers der Syntax: Platz machen, Raum geben, Space schaffen.
 
Vielleicht können uns die abstrakten, unerforschten Räume, Spaces, blank spaces, Leerzeichen, einen Hinweis geben, wie man Institutionen in politisch gefährlichen Zeiten aufrechterhalten kann. Der leere Raum des Zwischenreichs – zwischen den Zeiten, zwischen den Institutionen – könnte der Raum sein, in dem große Apparate mit kleinen Projekträumen interagieren könnten. In dem vermögende Institutionen sich mit unabhängigen zusammenschließen könnten. In dem bedrohte Institutionen von Privilegierten die Macht für sich beanspruchen und sie erhalten könnten. Nicht aus Charity, sondern aus dem Verständnis heraus, dass das, was die kleine, unabhängige Institution effektiv tun könnte, der großen völlig misslingen würde. Dass das, was die private Institution leicht überleben wird, das größte Problem der subventionierten wäre. Sich auf diese Differenz zu besinnen und den Austausch fortzusetzen, könnte das post/über-Identitätspolitik-intersektionale Theater werden: ein leerer Raum, in dem Solidaritäten wie ein politisches Myzel wachsen und sich im und auf dem Boden, zwischen und rund um Nationalismus, Rassismus und demagogischen Populismus ausbreiten könnten, indem sie ihr rhizomatisches Gegenteil, ihre verknüpfte, hypervernetzte Antwort sind. Ein Massensubstantiv: Singular und Plural. Der Raum des Leerzeichens, der Leerzeichen. Leer und neutral. Beladen mit der Vergangenheit und gesättigt mit Ideen. Ein bisschen wie …? Genau. Ein bisschen wie der Theaterraum selbst.
 
Vielleicht könnte also in diesen Zeiten, in denen die Luft brennt, in denen mehr und mehr Menschen zu Illegalen gemacht werden und die Zukunft unserer Kunstinstitutionen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und auf der ganzen Welt – nicht klar ist, das Rätsel des „intersektionalen Theaters“ für uns zu einem Hinweis, zu einer Inspiration werden, für einen möglichen Umgang mit komplexen politischen Realitäten und zur Verteidigung der Institutionen, für die wir alle gerade verantwortlich sind, denn Sie wissen schon: „Not on my watch“ und so weiter.
 
Also: Wie viel Zeit, etwa im Laufe von 100 Jahren, kann eine Theaterinstitution genau das tun, wozu sie eigentlich da ist, nämlich sinnstiftende, kritische Kunst zu kuratieren und zu produzieren? 
Manchmal denke ich, dass vielleicht dies die seltensten Zeiten sind.
 
Theaterpreis des Bundes, 10/2023

 


Einige Zeichen für Winde

Eine Erzählung von Mazlum Nergiz

Ich traue mich nicht mehr in meine Wohnung. Ich will es nicht laut sagen, aber ich bin mir sicher: Meine Nachbarin ist in meiner Wohnung. Kann ich das über eine tote Frau sagen? Ja, sie ist da, anwesend. Der Geist meiner Nachbarin, der ich vor einigen Monaten eine Brosche gestohlen habe, verfolgt mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
 
Ich lief gerade, vor nicht einmal zwanzig Minuten, die drei Stockwerke zu meiner Wohnung hoch. Völlig erschöpft kam ich an. Als ich in meiner Tasche nach den Schlüsseln suchte, hörte ich plötzlich ein Fiepen. Ich legte mein Ohr an die Wohnungstür. Das Geräusch löste sich auf und kam wie ein ausgeworfenes Netz auf mich zu. Ich wusste, dass es Patrizia war (so war der Name meiner Nachbarin). Ich habe der Tür einen heftigen Tritt verpasst und Patrizia einige Beschimpfungen an den Kopf (hat ein Geist einen Kopf?) geworfen. Es hat gut getan, sie zu beleidigen.
 
Jetzt laufe ich durch die Straßen. Ein leichter Regen fällt, und mit ihm kommt der Geruch von Steinen und Benzin. Etwas in der Luft bewegt sich und lässt den Himmel pulsieren. Die Wolken im Himmel sehen aus wie Popcorn. Der Berg ist leer, lese ich an einem Zeitungsstand. Stimmt, der Berg ist leer. Die Menschen hier sprechen seit einigen Tagen von nichts anderem mehr, als dass es wohl bald kein Erz mehr im Berg geben wird. Trotz des grauen Morgens brennt in vielen Wohnungen kein Licht. Diese Stadt, angelegt am Hang eines Kiefernwaldes, wirkt wie eine unbrauchbare Kulisse, von der niemand mehr weiß, warum sie überhaupt hergestellt wurde.
 
Ich überlege, ob ich zurück ins Hotel gehen soll, in dem ich an der Rezeption arbeite, auch wenn ich nicht verstehen kann, warum man überhaupt hier in diesem Loch übernachten würde, aber nun gut. Außerdem glaube ich, dass Patrizia heute Nacht auch schon dort war. Der Fernseher in der Lobby zeigt normalerweise nur Sport oder friedliche Tierdokumentationen. Ich war erst zwei Stunden im Dienst, aber trotzdem schon sehr müde. Ich holte mir einen doppelten Espresso an der Bar. Zurück an der Rezeption, sah ich, wie auf einmal eine sehr alte Kindersendung lief, die erklärte, wie Nervenzellen funktionierten. Ich wollte umschalten, doch der Kanal ließ sich nicht wechseln. Also guckte ich zu. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden hatte, dass die Zeichentrickserie die verschiedenen Elemente wie Blutkörperchen, Botenstoffe und Nervenimpulse vermenschlicht darstellte. Anhand eines Sportunfalls wurde gezeigt, wie das Nervensystem auf Schmerz reagierte. Vorgänge im Körper wurden so banal verhandelt, damit Kinder es begriffen. Die komplexesten Prozesse, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommen würde und deswegen auch für immer mit einem Rest Unerklärlichkeit verbunden blieben, wurden so fantastisch erzählt, dass ich dachte, der menschliche Körper wäre eine bloße Fiktion.
 
Unter keinen Umständen will ich jetzt zurück ins Hotel. Ich setze mich in ein leeres Café im Zentrum und bestelle mir einen Ingwertee, der in einem zerkratzten Glas serviert wird. Die Scheiben des Ingwers sind an einem langen Zahnstocher aufgespießt. Ich suche nach Flügen, bis mir einfällt, dass es hier gar keinen Flughafen gibt. Ich fasse in meine Tasche und hole Patrizias Brosche heraus. Eine sehr kleine, aber schwere Figur. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie aus Elfenbein gemacht ist. Ich frage mich, ob sie wohl dafür einem Elefanten den Stoßzahn ausgerissen haben? Wachsen Stoßzähne eigentlich nach? Ich google. Ja, sie wachsen nach.
 
Ich habe keine Angst vor Patrizias Geist. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Aber wie soll ich einem Geist etwas zurückgeben? Und wieso werde ausgerechnet ich verfolgt? Ich kannte sie kaum. Ist es wirklich nur wegen der Brosche?
 
Patrizia und ihr Ehemann waren in die Wohnung gegenüber meiner gezogen. Sie lud mich zum Tee ein, und wir unterhielten uns in ihrer Küche wirklich sehr nett. Patrizia erzählte mir, dass ihr Ehemann eine Stelle als Schichtleiter im Bergwerk angetreten hatte. Was sie den ganzen Tag in der Wohnung machte, wenn er zur Arbeit ging und sie zuhause blieb, erzählte sie mir nicht. Irgendwann ging sie zur Toilette. Ich erspähte auf dem Küchenfenster eine geöffnete Büchse mit Schmuck. Ich hustete laut, damit sie nicht hörte, dass ich aufgestanden war. Ich griff nach der Brosche. Bestimmt, dachte ich, wird Patrizia sie in den Wirren des Umzugs nicht vermissen. Ich hatte lange schon nicht mehr geklaut. Sofort stellte sich das befriedigende Gefühl ein, das ich so sehr vermisst hatte: wieder in Besitz von etwas zu sein, das mir gehörte. Ich schämte mich nicht.
 
Ein Mann mit langen schwarzen Haaren bleibt an meinem Tisch stehen. Er hält eine schwere, braune Aktentasche in seiner rechten Hand. Er ist rasiert und trägt saubere Kleidung. Sollte er obdachlos sein, hat er sich tapfer geschlagen. Lediglich die weit aufgerissenen, runden Augen beunruhigen mich. Was, wenn er mir den heißen Tee ins Gesicht schüttet oder mich mit dem Ingwerspieß verletzt? Er sagt, er stamme aus Ägypten, er sei Historiker und habe auch ein großes Interesse an der Vorhersage von Naturkatastrophen. Ich halte mein Glas fest. Er setzt sich hin und holt einen dünnen, durchsichtigen Ordner aus der Aktentasche. Er stellt Papiere zusammen. Einige Blätter lassen sich nicht voneinander lösen. Gekonnt leckt er seinen Zeigefinger und schiebt vorsichtig den feuchten Fingernagel zwischen die Blätter. Er überreicht mir einen Stapel, lächelt mich an und fragt, ob er noch etwas für mich tun könne?
 
Ich gebe ihm fünf Euro. Er bedankt sich. Ich erzähle ihm von Patrizia. Ernst hört er mir zu, und zum Schluss beichte ich ihm auch meine Tat. Er lacht. Das sei ja ganz einfach, sagt er und schlussfolgert – worauf ich natürlich auch schon selbst gekommen bin –, dass Patrizias Geist mich terrorisiert. Ich würde ihm am liebsten die fünf Euro wieder wegnehmen. Geben Sie dem Geist zurück, was ihm gehört, sagt er. Sollte ich mich ihrer nicht bald annehmen, würden immer mehr Versionen von ihr auftauchen. Das Geräusch, das ich gerade an meiner Wohnungstür gehört habe, sei bloß eine Warnung. Ich würde, wenn ich ihren Geist nicht zufriedenstelle, noch andere Dinge hören.
 
Ich erzähle ihm nicht, wie Patrizia gestorben ist, weil ich es nicht weiß. Meine Vermieterin hatte bloß gesehen, wie ihr Ehemann sie vor zwei Monaten mit schweren Verbrennungen aus der Wohnung trug. Ich musste arbeiten und habe alles verpasst. Er brachte sie ins Krankenhaus, wo sie sich wohl laut meiner Vermieterin noch in derselben Nacht vom Dach geworfen hätte. Die Nachbarin von unten sagt, sie hätte sich am Treppengeländer der Klinik erhängt. Beide wissen, natürlich, nichts. Ich frage mich, wie sie sich mit schweren Verbrennungen vom Dach gestürzt oder erhängt haben soll. Ich habe ihren Ehemann nie wieder gesehen. Ein paar Tage nach ihrem Tod kam eine Umzugsfirma und leerte die Wohnung.
 
Was heißt es, ein Geist zu sein? Ich stelle mir Patrizias Geist nicht wie das fiepende Geräusch vor. Ich stelle mir ihren Geist wie Wellen vor. Dann stelle ich mir Wellen im Sturm vor. Wellen auf hoher See sehen aus wie Berge.
 
Der ägyptische Historiker nimmt einen großen Schluck von meinem Tee und verlässt das Café, ohne sich von mir zu verabschieden. Die Unterlagen, die er mir überreicht hat, sind Beschreibungen über altorientalische Wetterkunde (am Rand dieses Zettels steht die Gleichung ‚Schmetterling = psyche‘). Die seiner Meinung nach interessanteste Fragestellung über den Verlauf der Winde fasst er so zusammen: Warum ist es ein Zeichen für Wind, wenn Sternschnuppen zu sehen sind? Ist es, weil sie vom Wind getragen werden und der Wind dort auftritt, bevor er zu uns kommt? Und deshalb kommt der Wind auch an dem Ort vor, von dem aus die Sterne reisen. Warum sind die Winde am Ende am stärksten?
 
Ich lege ausreichend Geld für den Tee auf den Tisch. Immer noch fällt leichter Regen. Ich stelle mich unter die Markise des Cafés. Im Spiegel der Glasfront sehe ich mich und, weiter unten, das abfließende Regenwasser, das in die Kanalisation fließt und gleichzeitig aus ihr hervorzukriechen scheint. Ein kleiner Fluss, denke ich, der in beide Richtungen fließt. Ich hole die Brosche aus meiner Tasche, werfe sie in den Gully und gehe zurück in meine Wohnung.

Ich traue mich nicht mehr in meine Wohnung. Ich will es nicht laut sagen, aber ich bin mir sicher: Meine Nachbarin ist in meiner Wohnung. Kann ich das über eine tote Frau sagen? Ja, sie ist da, anwesend. Der Geist meiner Nachbarin, der ich vor einigen Monaten eine Brosche gestohlen habe, verfolgt mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
 
Ich lief gerade, vor nicht einmal zwanzig Minuten, die drei Stockwerke zu meiner Wohnung hoch. Völlig erschöpft kam ich an. Als ich in meiner Tasche nach den Schlüsseln suchte, hörte ich plötzlich ein Fiepen. Ich legte mein Ohr an die Wohnungstür. Das Geräusch löste sich auf und kam wie ein ausgeworfenes Netz auf mich zu. Ich wusste, dass es Patrizia war (so war der Name meiner Nachbarin). Ich habe der Tür einen heftigen Tritt verpasst und Patrizia einige Beschimpfungen an den Kopf (hat ein Geist einen Kopf?) geworfen. Es hat gut getan, sie zu beleidigen.
 
Jetzt laufe ich durch die Straßen. Ein leichter Regen fällt, und mit ihm kommt der Geruch von Steinen und Benzin. Etwas in der Luft bewegt sich und lässt den Himmel pulsieren. Die Wolken im Himmel sehen aus wie Popcorn. Der Berg ist leer, lese ich an einem Zeitungsstand. Stimmt, der Berg ist leer. Die Menschen hier sprechen seit einigen Tagen von nichts anderem mehr, als dass es wohl bald kein Erz mehr im Berg geben wird. Trotz des grauen Morgens brennt in vielen Wohnungen kein Licht. Diese Stadt, angelegt am Hang eines Kiefernwaldes, wirkt wie eine unbrauchbare Kulisse, von der niemand mehr weiß, warum sie überhaupt hergestellt wurde.
 
Ich überlege, ob ich zurück ins Hotel gehen soll, in dem ich an der Rezeption arbeite, auch wenn ich nicht verstehen kann, warum man überhaupt hier in diesem Loch übernachten würde, aber nun gut. Außerdem glaube ich, dass Patrizia heute Nacht auch schon dort war. Der Fernseher in der Lobby zeigt normalerweise nur Sport oder friedliche Tierdokumentationen. Ich war erst zwei Stunden im Dienst, aber trotzdem schon sehr müde. Ich holte mir einen doppelten Espresso an der Bar. Zurück an der Rezeption, sah ich, wie auf einmal eine sehr alte Kindersendung lief, die erklärte, wie Nervenzellen funktionierten. Ich wollte umschalten, doch der Kanal ließ sich nicht wechseln. Also guckte ich zu. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden hatte, dass die Zeichentrickserie die verschiedenen Elemente wie Blutkörperchen, Botenstoffe und Nervenimpulse vermenschlicht darstellte. Anhand eines Sportunfalls wurde gezeigt, wie das Nervensystem auf Schmerz reagierte. Vorgänge im Körper wurden so banal verhandelt, damit Kinder es begriffen. Die komplexesten Prozesse, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommen würde und deswegen auch für immer mit einem Rest Unerklärlichkeit verbunden blieben, wurden so fantastisch erzählt, dass ich dachte, der menschliche Körper wäre eine bloße Fiktion.
 
Unter keinen Umständen will ich jetzt zurück ins Hotel. Ich setze mich in ein leeres Café im Zentrum und bestelle mir einen Ingwertee, der in einem zerkratzten Glas serviert wird. Die Scheiben des Ingwers sind an einem langen Zahnstocher aufgespießt. Ich suche nach Flügen, bis mir einfällt, dass es hier gar keinen Flughafen gibt. Ich fasse in meine Tasche und hole Patrizias Brosche heraus. Eine sehr kleine, aber schwere Figur. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie aus Elfenbein gemacht ist. Ich frage mich, ob sie wohl dafür einem Elefanten den Stoßzahn ausgerissen haben? Wachsen Stoßzähne eigentlich nach? Ich google. Ja, sie wachsen nach.
 
Ich habe keine Angst vor Patrizias Geist. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Aber wie soll ich einem Geist etwas zurückgeben? Und wieso werde ausgerechnet ich verfolgt? Ich kannte sie kaum. Ist es wirklich nur wegen der Brosche?
 
Patrizia und ihr Ehemann waren in die Wohnung gegenüber meiner gezogen. Sie lud mich zum Tee ein, und wir unterhielten uns in ihrer Küche wirklich sehr nett. Patrizia erzählte mir, dass ihr Ehemann eine Stelle als Schichtleiter im Bergwerk angetreten hatte. Was sie den ganzen Tag in der Wohnung machte, wenn er zur Arbeit ging und sie zuhause blieb, erzählte sie mir nicht. Irgendwann ging sie zur Toilette. Ich erspähte auf dem Küchenfenster eine geöffnete Büchse mit Schmuck. Ich hustete laut, damit sie nicht hörte, dass ich aufgestanden war. Ich griff nach der Brosche. Bestimmt, dachte ich, wird Patrizia sie in den Wirren des Umzugs nicht vermissen. Ich hatte lange schon nicht mehr geklaut. Sofort stellte sich das befriedigende Gefühl ein, das ich so sehr vermisst hatte: wieder in Besitz von etwas zu sein, das mir gehörte. Ich schämte mich nicht.
 
Ein Mann mit langen schwarzen Haaren bleibt an meinem Tisch stehen. Er hält eine schwere, braune Aktentasche in seiner rechten Hand. Er ist rasiert und trägt saubere Kleidung. Sollte er obdachlos sein, hat er sich tapfer geschlagen. Lediglich die weit aufgerissenen, runden Augen beunruhigen mich. Was, wenn er mir den heißen Tee ins Gesicht schüttet oder mich mit dem Ingwerspieß verletzt? Er sagt, er stamme aus Ägypten, er sei Historiker und habe auch ein großes Interesse an der Vorhersage von Naturkatastrophen. Ich halte mein Glas fest. Er setzt sich hin und holt einen dünnen, durchsichtigen Ordner aus der Aktentasche. Er stellt Papiere zusammen. Einige Blätter lassen sich nicht voneinander lösen. Gekonnt leckt er seinen Zeigefinger und schiebt vorsichtig den feuchten Fingernagel zwischen die Blätter. Er überreicht mir einen Stapel, lächelt mich an und fragt, ob er noch etwas für mich tun könne?
 
Ich gebe ihm fünf Euro. Er bedankt sich. Ich erzähle ihm von Patrizia. Ernst hört er mir zu, und zum Schluss beichte ich ihm auch meine Tat. Er lacht. Das sei ja ganz einfach, sagt er und schlussfolgert – worauf ich natürlich auch schon selbst gekommen bin –, dass Patrizias Geist mich terrorisiert. Ich würde ihm am liebsten die fünf Euro wieder wegnehmen. Geben Sie dem Geist zurück, was ihm gehört, sagt er. Sollte ich mich ihrer nicht bald annehmen, würden immer mehr Versionen von ihr auftauchen. Das Geräusch, das ich gerade an meiner Wohnungstür gehört habe, sei bloß eine Warnung. Ich würde, wenn ich ihren Geist nicht zufriedenstelle, noch andere Dinge hören.
 
Ich erzähle ihm nicht, wie Patrizia gestorben ist, weil ich es nicht weiß. Meine Vermieterin hatte bloß gesehen, wie ihr Ehemann sie vor zwei Monaten mit schweren Verbrennungen aus der Wohnung trug. Ich musste arbeiten und habe alles verpasst. Er brachte sie ins Krankenhaus, wo sie sich wohl laut meiner Vermieterin noch in derselben Nacht vom Dach geworfen hätte. Die Nachbarin von unten sagt, sie hätte sich am Treppengeländer der Klinik erhängt. Beide wissen, natürlich, nichts. Ich frage mich, wie sie sich mit schweren Verbrennungen vom Dach gestürzt oder erhängt haben soll. Ich habe ihren Ehemann nie wieder gesehen. Ein paar Tage nach ihrem Tod kam eine Umzugsfirma und leerte die Wohnung.
 
Was heißt es, ein Geist zu sein? Ich stelle mir Patrizias Geist nicht wie das fiepende Geräusch vor. Ich stelle mir ihren Geist wie Wellen vor. Dann stelle ich mir Wellen im Sturm vor. Wellen auf hoher See sehen aus wie Berge.
 
Der ägyptische Historiker nimmt einen großen Schluck von meinem Tee und verlässt das Café, ohne sich von mir zu verabschieden. Die Unterlagen, die er mir überreicht hat, sind Beschreibungen über altorientalische Wetterkunde (am Rand dieses Zettels steht die Gleichung ‚Schmetterling = psyche‘). Die seiner Meinung nach interessanteste Fragestellung über den Verlauf der Winde fasst er so zusammen: Warum ist es ein Zeichen für Wind, wenn Sternschnuppen zu sehen sind? Ist es, weil sie vom Wind getragen werden und der Wind dort auftritt, bevor er zu uns kommt? Und deshalb kommt der Wind auch an dem Ort vor, von dem aus die Sterne reisen. Warum sind die Winde am Ende am stärksten?
 
Ich lege ausreichend Geld für den Tee auf den Tisch. Immer noch fällt leichter Regen. Ich stelle mich unter die Markise des Cafés. Im Spiegel der Glasfront sehe ich mich und, weiter unten, das abfließende Regenwasser, das in die Kanalisation fließt und gleichzeitig aus ihr hervorzukriechen scheint. Ein kleiner Fluss, denke ich, der in beide Richtungen fließt. Ich hole die Brosche aus meiner Tasche, werfe sie in den Gully und gehe zurück in meine Wohnung.